Ein Kommentar von Nico Oppel, Fachleitung Wohnen beim Behindertenhilfeträger Martinsclub Bremen e. V., zur Wohnsituation behinderter Menschen.
Wie wohnen eigentlich Menschen mit einer Beeinträchtigung? Das Bild, das die Gesellschaft davon hat, ist fest zementiert: Natürlich in einem Wohnheim – wo sonst? Und das, so die einhellige Meinung, sei auch gut so. Die Vorstellung, dass behinderte Menschen ihr Leben selber in die Hand nehmen, erscheint weit weg. Eigenständigkeit wird ihnen nicht zugetraut. Behinderte gehören ins Wohnheim, das war doch immer schon so.
Halt! Eine solche Denkweise ist veraltet, falsch und diskriminierend. Selbstbestimmung und Eigenverantwortung – was wohl jeder freie Mensch für sich einfordern würde – bleiben so auf der Strecke. Zudem sind die Zustände in manchem Wohnheim wenig einladend. Leider ist es auch heute noch so, dass in einigen stationären Gemeinschaftsunterkünften 40 Menschen oder mehr regelrecht zusammengepfercht wohnen. Ruhe, Entspannung, zuhause einfach mal abschalten? Fraglich, wie das unter diesen Umständen gelingen soll. Hinzu kommt, dass ein Leben in solchen Strukturen oft nicht selbst gewählt, sondern das Ergebnis mangelnder Alternativen ist.
Dabei geht es doch auch anders, nämlich ambulant statt stationär. Selbst schwerstbehinderte Menschen sind durchaus in der Lage, in einer eigenen Wohnung oder in kleinen Wohngemeinschaften zu leben. Pflege und Unterstützung können ambulant gewährleistet werden. Die Praxis beweist, dass es klappt. Natürlich ist dieses Modell nicht für alle Menschen gleich gut geeignet. Und der eine oder die andere mag – in Ermangelung besserer Angebote – im Wohnheim tatsächlich gut aufgehoben sein. Hier sind individuelle Lösungen gefragt. Wohnheime dürfen nicht die Resterampe für jene Menschen sein, die im ambulanten Konzept nicht zurechtkommen. Wir beim Martinsclub haben daher den Anspruch, allen Menschen ein ambulantes Wohnangebot zu machen und ihnen die Wahlmöglichkeit über ihre Wohnsituation zu geben. Warum? Weil das eigene Zuhause einer der wichtigsten Orte im Leben ist. Hier sollte man sich wohlfühlen und nach den eigenen Regeln leben können. Dieses Recht müssen Politik und Gesellschaft für alle Menschen gewährleisten.
Ein weiteres Argument für die eigene Wohnung ergibt sich aus der Pandemie: Bricht im Wohnheim das Coronavirus aus, gilt für das ganze Haus mehrere Wochen Zimmerquarantäne. Für die Beteiligten ist das kaum zumutbar, Infektionsgefahr inklusive.
Es ist an der Zeit, einen Paradigmenwechsel einzuläuten und Menschen mit einer Beeinträchtigung den Weg in die eigenen vier Wände zu ebnen.
Der Martinsclub Bremen e. V. ist einer der größten Träger der Behindertenhilfe in Bremen. Gegründet im Jahr 1973, bietet er heute ein vielfältiges Leistungsangebot. Dazu zählen Wohnbetreuung, Assistenz in Schule, Jugendhilfe, Pflege, Bildungs- und Freizeitangebote, Fortbildungen für soziale Berufsfelder, eine Tagungsraumvermietung, zwei inklusive Gastronomiebetriebe sowie eine Agentur für barrierefreie Kommunikation. Gesellschaftlich und politisch setzt sich der Martinsclub mit seinen ca. 1.200 Beschäftigten für Inklusion und Gleichberechtigung ein. In den Bremer Stadtteilen Neustadt, Findorff, Kattenturm, Gröpelingen, Huckelriede, Vegesack, Walle und Vahr ist er mit einem Quartierszentrum vertreten. Seit 2018 ist der Martinsclub zudem in der Stadt Syke in Niedersachsen aktiv.
Zur Person:
Nico Oppel, 42 Jahre, ist studierter Sozialpädagoge und seit 2012 Fachleitung Wohnen beim Behindertenhilfeträger Martinsclub Bremen e. V. In dieser Rolle macht er sich für ambulante Wohnangebote für Menschen mit Beeinträchtigung stark.
Nico Oppel